Nach dem Cheeseburger brachte Josefine Hazel noch einen Coupe Dänemark mit einer brennenden Wunderkerze darauf. Sie setzte sich zu ihr und versuchte, aus Hazels Geometrie-Aufgaben schlau zu werden, konnte ihr aber nicht weiterhelfen. »Das ist nie meine Stärke gewesen«, entschuldigte sie sich.
Hazel zuckte mit den Schultern. »Es macht nichts«, murmelte sie. »Ich will ohnehin Tänzerin werden. Und dafür brauche ich keine Geometrie.«
Josefine lachte. »Ich bin sicher, ich werde dich mal auf einer grossen Bühne tanzen sehen.«
Hazel lächelte. »Danke für den Nachtisch, Jo.«
»Der war nicht von mir, Süsse, der war von dem Herrn, der hier war.«
Hazel machte grosse Augen. »Oh! Ich dachte, er wäre von der Tanzakademie, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. »Egal! Ich glaube, ich sollte mal nach Hause.«
Josefine erhob sich. »Mach das. Ruf an, falls deine Mutter nicht zuhause ist.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »So, ich muss weitermachen.«
Hazel schenkte ihr ein warmes Lächeln und sah ihr nach, als sie hinter dem Tresen verschwand. Dann packte sie ihr Unterrichtsmaterial in ihren Rucksack, zog die Jacke an und stand auf. Im Vorbeigehen winkte sie und Josefine eilte ihr hinterher und steckte ihr noch ein Tütchen Gummibärchen zu. Dann stand sie draussen auf dem Gehweg.
Sie hätte das Tram nehmen können, aber sie zog es vor, zu Fuss zu gehen. Sie hatte es nicht eilig. Sie schlenderte durch die Strassen und kickte eine leere Zigarettenpackung vor sich her, während sie ein Gummibärchen nach dem anderen zerkaute. Auf dem heruntergekommenen Quartier-Spielplatz vor ihrem Haus traf sie die Nachbarsjungen beim Breakdance.
»Hi Haz!«, rief ihr einer der Jungs zu. »Machst du mit?«
Hazel sah zu ihrer Wohnung hoch. In der Küche brannte Licht. Sie schüttelte den Kopf, dass die Haare in alle Richtungen flogen. »Heute nicht, ich muss mal nach meiner Mutter sehen.«
Sie rannte die Treppen hinauf, den Laubengang zur letzten Wohnungstür hinunter und stiess die Tür auf. »Mama?!« Sie warf ihren Rucksack hin, schlug die Tür laut zu und kickte die Schuhe von den Füssen.
»Hazel?«
Hazel blickte hoch. Ihre Mutter stand im Flur. Sie sah verschlafen und etwas desorientiert aus und hatte sich in eine Wolljacke gewickelt.
»Wo warst du?«, schimpfte Hazel. »Wo hast du gesteckt? Du hast mich mit irgendeinem Typen bei Jo sitzen gelassen! Was hast du dir nur dabei gedacht?!«
Hazel sah, wie ihre Mutter, die ohnehin schon blass war, noch bleicher wurde. »Oh, wie spät ist es denn?« Sie warf einen verwirrten Blick auf ihre Uhr. »Mist, ich muss eingeschlafen sein. Ich hatte so starke Kopfschmerzen, da habe ich zwei Tabletten genommen. Ich wollte doch fit sein heute Abend! Und dann habe ich mich noch einen Augenblick hingelegt, nur kurz … Ich habe gar nicht gemerkt …« Sie sah Hazel zerknirscht an. »Das tut mir so leid«, flüsterte sie.
Hazel erwiderte den Blick finster, dann senkte sie den Kopf. »Schon gut«, murmelte sie. »Dein Typ war allerdings nicht sehr erfreut, dass du ihn extra hinbestellst und dann nicht aufkreuzt.«
»Welcher Typ?«, fragte Catherine verwirrt. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Mason! Dann ist er gekommen? Wie findest du ihn?«
Hazel verdrehte die Augen. »Mama, wenn du einen Kerl kennenlernen möchtest, solltest du selbst zum Date gehen, nicht mich hinschicken.« Sie schob sich an ihrer Mutter vorbei und verschwand im Badezimmer.
Als sie wieder auf den Flur trat, stand ihre Mutter immer noch da in ihrer Wolljacke, die ihr viel zu gross war. »Dann hast du schon gegessen?«
Hazel nickte. »Du?«
Catherine schüttelte den Kopf und lehnte sich müde an die Wand. »Du weisst, dass ich nicht essen kann, wenn ich diese starken Kopfschmerzen kriege. Das schlägt mir auf den Magen. Ausserdem bin ich danach immer so müde.«
»Dann leg dich doch wieder hin«, schlug Hazel vor. »Ich kann dir was zu essen bringen, wenn die Kopfschmerzen nachgelassen haben.«
Catherine lächelte und zog ihre Tochter in eine feste Umarmung. »Was würde ich nur ohne dich machen?«, flüsterte sie und begann zu weinen.
Hazel löste sich ruckartig aus ihren Armen. »Leg dich hin, Mama. Ich bin gleich bei dir.« Sie verschwand in der Küche, öffnete den Kühlschrank und untersuchte den Inhalt. Schliesslich entschied sie sich für die restlichen Spaghetti vom Vortag, holte eine Pfanne und begann, Spaghetti plus Sauce aufzuwärmen. Sie stellte einen Teller und ein Glas auf ein Tablett, legte Gabel und Suppenlöffel dazu, schenkte Wasser ein, rührte in den Spaghetti und wartete, bis sie warm waren. Dann streute sie etwas Reibkäse darüber, kippte alles auf den Teller, vergewisserte sich, dass der Herd ausgeschaltet war und die leere Pfanne nicht mehr auf der heissen Herdplatte stand, nahm das Tablett und verliess die Küche.
Catherine hatte sich ins Bett zurückgezogen. Sie setzte sich lächelnd auf, als Hazel zögernd auf der Schwelle erschien. »Du bist ein Schatz, Hazel, danke dir!« Sie nahm das Tablett entgegen und Hazel kuschelte sich neben sie.
»Und du bist sicher, du möchtest nichts?«
Hazel schüttelte den Kopf. »Ich hatte einen Cheeseburger mit Pommes und einen Coupe Dänemark.«
»Die liebe Jo«, murmelte Catherine, während ihr erneut Tränen in die Augen traten.
Hazel beobachtete sie stumm. Nach einer Weile flüsterte sie: »Du solltest zum Arzt, Mama. Es wird wieder schlimmer.«
»Ich weiss, Schatz.«
»Warum machst du es dann nicht?«
»Ich weiss doch, was dann kommt«, erklärte Catherine. »Er wird mich wieder in eine Klinik schicken. Aber ich will nicht mehr! Ich kann dich doch nicht schon wieder im Stich lassen.»
»Ich komme schon klar. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.«
»Ich weiss«, schluchzte Catherine. »Aber ich vermisse dich dort jeden Tag. Das halte ich nicht noch einmal aus.«
»Vielleicht kann dir der Arzt andere Medikamente geben …«
Catherine nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie holte tief Luft. »Ich werde anrufen. Versprochen! Wie war es heute in der Schule?«
Hazel zuckte mit den Schultern. »Wie immer.«
»Hast du Hausaufgaben?«
»Schon gemacht.«
»Alles?«
»Ja …« Hazel zögerte. »Fast alles … Ich will nicht mehr. Schliesslich ist mein Geburtstag«, fügte sie mit leichtem Trotz an.
Catherine strich ihrer Tochter über die Haare. »Und ich wollte mit dir nach dem Abendessen noch ins Kino gehen. Magst du trotzdem noch hingehen?«
Hazel schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. »Vielleicht besser am Wochenende, Mama. Morgen muss ich doch zur Schule. Ich bin müde.« Sie seufzte schwer.
Catherine gähnte. »Ich ja auch … Willst du hier schlafen, Maus?«
Beinahe hätte Hazel am nächsten Morgen ihren Wecker im Zimmer nebenan nicht gehört. Als sie endlich hochschreckte, brauchte sie einen Augenblick, bis sie das Geräusch identifizieren konnte. Sie rollte sich zur Seite und glitt leise aus dem Bett. Ihre Mutter schlief tief und fest. Hazel tapste in ihr Zimmer hinüber und schaltete den Wecker aus, dann zog sie frische Kleider an und ging in die Küche. Der Teller mit den verkrusteten Resten, die Catherine nicht hatte fertig essen mögen, stand neben der Spüle. Hazel öffnete den Kühlschrank und holte Milch heraus. Sie schüttete die letzten Frosties aus der Müesli-Packung und notierte, dass sie welche kaufen musste.
Sie zog die Krimskrams-Schublade auf und holte das Haushaltsportemonnaie hervor. Sie nahm die Zwanzigernote heraus, die es noch darin hatte, und stopfte sie in die Gesässtasche ihrer Jeans, dann setzte sie sich auf den Tisch, stellte die Füsse auf den Stuhl und nahm ihre Müeslischale in die Hand. Hastig schaufelte sie die Cerealien in den Mund, schlürfte die Milch und strich sich, nachdem sie die Schale abgestellt hatte, mit dem Handrücken über den Mund. Dann fiel ihr der Termin ein. Das Gespräch mit der Schulleiterin.
Sie stellte die Schale in die Spüle, ging sich die Zähne putzen, bürstete ihre langen Haare und nahm sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Einen Augenblick stand sie unschlüssig an der Schwelle zu Catherines Schlafzimmer.
»Mama?«
Catherine murmelte etwas und drehte sich auf die andere Seite.
»Mama!«, bat Hazel etwas lauter.
Catherine öffnete die Augen. »Ach, du bist schon fertig angezogen? Wie spät ist es denn?«
»Halb acht, ich muss gleich los.«
Catherine setzte sich langsam auf und gähnte verschlafen. Dann lächelte sie. »Mein grosses Mädchen«, murmelte sie. »Schon so selbständig. Hast du gegessen?«
Hazel nickte. »Aber jetzt hat es kein Müesli mehr.«
»Macht nichts, Schatz. Im Tiefkühler hat es noch Toast, davon nehme ich mir zwei Scheiben.«
Hazel nickte. Sie zögerte einen Augenblick, dann bat sie leise: »Du solltest wirklich deinen Arzt anrufen, okay?«
Catherine nickte. »Werde ich, versprochen.«
»Und um vier ist das Elterngespräch.«
Catherine bekam grosse Augen. »Was für ein Gespräch?«
»Mit der Schulleiterin. Wegen … neulich.«
»Die Sache mit Emma?«
Hazel nickte und biss sich auf die Lippen. Emma hatte ihre Mutter eine Psychotante genannt und Hazel einen Freak und da war Hazel ausgerastet. Sie hatte sie angeschrien und geschubst. Etwas gar heftig. Emma war gestürzt und hatte sich den Kopf am Türrahmen gestossen. Anschliessend war Hazel noch auf ihre Brille getreten.
»Das hätte ich glatt vergessen«, gestand Catherine.
Hazel zuckte mit den Schultern. »Mir egal. Aber ich glaube, Frau Torino wird sauer, wenn wir nicht erscheinen.« Ursprünglich hätte es ein Gespräch mit dem Klassenlehrer werden sollen, aber nachdem Hazel und Catherine zum vereinbarten Termin nicht erschienen waren, hatte der Lehrer die Sache an die Schulleitung übergeben. Hazel hatte ihm versichert, dass so etwas nie mehr vorkommen und ihre Mutter dieses Mal pünktlich zum Gespräch erscheinen würde. Das hoffe er, hatte ihr Lehrer geantwortet und angefügt, dass er andernfalls die Beiständin, Frau Gabriel, hinzuziehen würde.
Hazel wusste, dass ihre Mutter Frau Gabriel nicht mochte. Die Beiständin trat immer dann auf den Plan, wenn in Hazels Leben etwas ganz schief lief. Wie damals, als Mama eine Weile lang einen Freund gehabt hatte, der zu viel Alkohol getrunken und auch mal zugeschlagen hatte. Einmal hatte er sich so heftig mit Mama gestritten, dass Hazel dazwischen gegangen war, um die beiden zu trennen. Da hatte er sie verprügelt. Er war rasend vor Wut gewesen und Catherine hatte alle Mühe gehabt, ihn wieder zu beruhigen. Die Schramme, die Hazel sich am Esstisch geholt hatte, hatte mit zehn Stichen genäht werden müssen. Offenbar hatte ihre Unterstufenlehrerin ihr nicht geglaubt, dass sie auf dem nassen Boden ausgerutscht und gegen den Briefkasten gefallen war. Davon kriege man doch keine blauen Flecken an Armen und Beinen, hatte sie gemeint. Und eine Mieterin im gleichen Haus, die das Geschrei gehört hatte, hatte sich beim Jugendamt gemeldet.
Seither kam Frau Gabriel immer dann, wenn es Probleme gab. Deshalb mochte Catherine sie nicht, und auch Hazel fand, dass sie sich nicht einmischen sollte. Catherine und sie kamen gut alleine zurecht. Meistens wenigstens. Als Catherine aber plötzlich in schweren Depressionen versunken war und nur noch weinend im Bett gelegen hatte, war Hazel dann doch erleichtert gewesen, als Frau Gabriel nach drei Tagen von einer Nachbarin davon erfahren und alles in die Wege geleitet hatte: Catherine war für ein paar Wochen in eine Klinik gegangen und Hazel zu einer Familie in Pflege gekommen. Das hatte nicht so gut geklappt, aber Frau Gabriel war ziemlich geduldig gewesen und hatte eine andere Familie gesucht. Bis Hazel schliesslich zu Rosa-Ana Diener gekommen war. Dort war sie seither schon ein paarmal gewesen, wenn ihre Mutter etwas Ruhe gebraucht hatte.
»Ich werde in der Schule sein«, versprach Catherine und seufzte. »Um vier Uhr. Und sobald du weg bist, rufe ich den Arzt an und frage, ob er heute noch Zeit für mich hat, okay?«
Hazel nickte und wandte sich ab.
»Hazel?«
Hazel drehte sich in der Tür noch einmal um.
»Du bist so selbstständig. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Hazel versuchte zu lächeln und nickte stumm. Im Flur zog sie Schuhe und Jacke an, schwang ihren Rucksack über die Schulter und verliess die Wohnung.