Hazel Blue | Manuela Letsch

MANUELA LETSCH

  • 1. Kapitel

    Mason musterte skeptisch die bunte Leuchtreklame des Restaurants. Für ein dringendes, wichtiges Gespräch, wie Catherine es in ihrer E-Mail ausgedrückt hatte, schien ihm das schrille amerikanische Lokal nur bedingt geeignet. Allerdings hatte er Catherine schon seit Jahren nicht mehr persönlich getroffen, deshalb ging er davon aus, dass wenn sie ein Gespräch mit ihm für dringend erachtete, es wohl tatsächlich wichtig war. Darum hatte er zugesagt.
    Catherine und er hatten in den letzten zwölf Jahren nach ihrer kurzen Affäre nur sporadisch Kontakt gehabt: Mal hatte sie ihm ihre neuen Bankdaten für die Überweisung der monatlichen Unterhaltsbeiträge für die Tochter mitgeteilt, mal hatte sie ihn um eine Erhöhung eben dieser Beiträge gebeten, weil das Mädchen zwischendurch in einer Pflegefamilie betreut werden musste, offenbar aufgrund einer psychischen Erkrankung und eines Klinikaufenthalts von Catherine selber.
    Mason stiess die schwere Eingangstür auf und betrat den im amerikanischen Stil üppig dekorierten und mit Country-Musik erfüllten Raum. Er sah sich suchend um. Das Lokal war um diese frühe Zeit noch praktisch leer. Eine Frau zapfte Bier hinter dem Tresen ab. Sie stellte das volle Glas auf ein Tablett zu drei weiteren Stangen und lächelte ihn an. »Was kann ich für Sie tun?«
    Mason sah sich diskret um. Es hatte noch nicht viele Gäste. Ein junges Paar sass Händchen haltend an einem Zweiertisch neben dem Eingang. An einem grossen runden Tisch sassen vier Männer in Arbeiterkluft und unterhielten sich laut. Für sie waren wohl die vier Feierabendbier. Am Tresen sassen zwei weitere Männer, von denen jeder gedankenverloren in sein halbleeres Glas starrte. Einer tippte zum Rhythmus der Musik auf den Holztresen. Mason beugte sich näher zur Kellnerin. »Ich bin mit Catherine Miller verabredet«, sagte er leise.
    Die Kellnerin nickte wissend und deutete dann in die hinterste Ecke des Restaurants. »Der letzte Tisch. Ich bin gleich bei Ihnen.« Sie nahm das Tablett und brachte die Bier an den Stammtisch.
    Mason schritt den schmalen Raum hinunter bis zum letzten Tisch. Catherine war nicht da. Sie hatte auf Mason noch nie einen besonders pünktlichen Eindruck gemacht. Aber Mason war nicht bereit, lange auf sie zu warten, schliesslich hatte er noch anderes zu tun.
    Seine Gedanken erstarrten und Mason blieb abrupt stehen, als ein Mädchen unter dem Tisch hervorkroch. Es lächelte entschuldigend und legte die Farbstifte, die es am Boden zusammengeklaubt hatte, wieder auf die rot-weiss karierte Tischdecke und setzte sich auf das rote Kunstleder der Bank neben eine zerknüllte Jacke.
    Mason spürte, wie er rot wurde und seine Atmung sich beschleunigte. Das Mädchen nahm keinerlei Notiz von ihm. Es kannte ihn ja gar nicht. Erst als es bemerkte, dass er neben dem Tisch stehen blieb und nicht wie wahrscheinlich erwartet in Richtung Toiletten weiterging, hob es den Blick erneut und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen.
    Das Blau ihrer Augen war überwältigend. Mason war es, als blickte er geradewegs in einen Spiegel. Er suchte vergeblich nach Worten und war froh, als die Kellnerin zu ihm trat.
    »Nehmen Sie Platz«, forderte die Frau ihn auf. »Catherine kommt bestimmt bald … Hazel, deine Cola … Kann ich Ihnen auch schon etwas zum Trinken bringen?«
    Mason hätte am liebsten Nein gesagt, auf dem Absatz kehrt gemacht und das Lokal fluchtartig wieder verlassen, aber Hazels fragender Blick hielt ihn gefangen. Er nickte widerstrebend. »Eine Stange bitte.« Sein Mund fühlte sich ganz trocken an. Er zog den Mantel aus und legte ihn über die Lehne des benachbarten Stuhls, bevor er sich Hazel gegenüber hinsetzte.
    »Du bist Catherines Tochter?«, fragte er, weil ihm sonst nichts einfiel.
    Hazel nickte stumm. Abwartend.
    »Deine Mutter hat mich um das heutige Treffen gebeten«, fuhr Mason fort. »Sie hat nicht erwähnt, dass du auch hier sein würdest. Machst du Hausaufgaben?«
    Hazel schnitt eine Grimasse und nickte. »Geometrie«, murmelte sie schliesslich ohne Enthusiasmus.
    Mason musste schmunzeln. »Magst du Geometrie nicht?«
    Hazel seufzte. »Es ist kompliziert.«
    »Deine Mutter kann dir bestimmt helfen.«
    Hazel schob die Unterlippe vor und sah ihn durchdringend an. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Vielleicht«, murmelte sie, es klang allerdings nicht sehr überzeugt.
    Mason überlegte, ob er ihr seine Hilfe anbieten sollte. Geometrie hatte schliesslich zu seinen Lieblingsfächern gehört. Und wäre es nicht irgendwie seine Aufgabe, ihr zu helfen? Doch da kam die Bedienung und brachte sein Bier. Sie stellte es auf einen Untersatz vor ihn und wuselte Hazel liebevoll durch die Haare. »Noch immer nicht fertig?«
    Hazel schüttelte seufzend den Kopf und fuhr sich frustriert durch die langen, haselnussbraunen Haare. Dann klappte sie das Heft zu und stopfte die Farbstifte ins Etui zurück. Sie nahm eine Hand voll Popcorn aus der Schale in der Mitte des Tisches und beobachtete Mason scheinbar ratlos. Schliesslich hellte sich ihr Gesicht auf. »Sind Sie von der Modern Dance Academy?«
    Mason schüttelte den Kopf, wusste allerdings nicht, was er sagen sollte. Darf ich mich vorstellen? Ich bin dein Vater! War er das überhaupt? Rein biologisch betrachtet schon, aber gehörte nicht mehr zum Vatersein? Dinge wie Geometrie erklären zum Beispiel. Oder Schulaufführungen besuchen. All die Dinge, die er von allem Anfang an kategorisch abgelehnt hatte. Er hatte Hazels Unterhalt bezahlt. Anstandslos. Zu mehr war er nie bereit gewesen. »Du interessierst dich für Tanz?«, fragte er, weil sie ihn immer noch abwartend ansah.
    Hazel begann zu strahlen. »Dann sind Sie also doch von der MDA?«, fragte sie hoffnungsvoll.
    »Nein, bin ich nicht, tut mir leid. Wie kommst du darauf?«
    Hazel biss auf ihre Unterlippe und seufzte tief. »Ich dachte nur«, murmelte sie. »Ich habe meiner Mutter gesagt, ich wünsche mir zum Geburtstag, dass ich auf die MDA gehen darf … und da heute mein Geburtstag ist, dachte ich halt … Sie hat gesagt, dass es zu teuer ist, aber sie würde schauen, was sie machen könne. Und sie hätte eine Überraschung für mich.«
    Mason nahm hastig einen Schluck Bier, um seine Nervosität zu verbergen. »Du hast heute Geburtstag? Wie alt bist du denn geworden?« Wie lange lag seine Affäre mit Catherine schon zurück?
    »Zwölf.«
    »Schon zwölf? Gratuliere! Was hast du dir abgesehen von einer Tanzausbildung an der MDA denn noch gewünscht?«
    Hazel zuckte gelangweilt mit den Schultern.
    »Eine Fahrt auf einem Containerschiff vermutlich«, lachte die Kellnerin und trat zu ihnen.
    Hazel schüttelte mit trotzig vorgeschobener Unterlippe den Kopf. »Daran glaube ich nicht mehr«, erwiderte sie irritiert.
    »Wollt ihr schon bestellen oder wartet ihr auf Catherine?«, erkundigte sich die Frau.
    »Ich nehme den Cheeseburger«, bat Hazel.
    »Und Sie?«
    »Für mich nichts, danke.« Mason sah auf die Uhr. »Ich sollte bald wieder los.« Als die Kellnerin wieder in der Küche verschwunden war, fragte er: »Du willst ernsthaft auf einem Containerschiff mitreisen?«
    »Haben Sie eine Reederei?«, fragte Hazel und Mason sah, wie ihre Augen für einen Augenblick lang aufleuchteten.
    »Nein, von Schiffen verstehe ich nichts. Es ist nur … ein nicht alltäglicher Wunsch für ein zwölfjähriges Mädchen … finde ich.«
    Hazel schien verlegen. Sie kaute auf der Unterlippe und erklärte schliesslich: »Meine Mutter hat mir immer erzählt, mein Vater sei Hochseekapitän auf einem dieser Riesenschiffe, die Container um die ganze Welt transportieren. Deshalb war er immer unterwegs und konnte uns nie besuchen.« Sie starrte aus dem Fenster. »Aber ich glaube, das stimmt nicht. Ich meine …« Sie sah ihn Hilfe suchend an. »Irgendwann haben auch Kapitäne von Hochseeschiffen Ferien, oder nicht?«
    »Wahrscheinlich schon«, stimmte Mason ihr zu. Ihm war nicht wohl in seiner Haut.
    »Ich glaube, er hat uns vergessen«, stellte Hazel fest.
    Mason schwieg und sah erneut auf die Uhr. »Deine Mutter scheint uns auch vergessen zu haben«, bemerkte er. »Um welche Zeit hast du mit ihr abgemacht?«
    »Halb sechs. Und Sie?«
    »Ebenfalls. Denkst du, sie kommt noch?«
    Hazel zog ratlos die Schultern hoch, dann schwiegen beide. Mason suchte verzweifelt nach einem unverfänglichen Thema, doch es wollte ihm partout nichts einfallen. Die Kleine wollte auf die Tanzakademie! Deswegen wollte Catherine ihn sprechen. Weil das eine Stange Geld kostete. Oder hatte sie vorgehabt, das Geheimnis um Hazels verschollenen Vater zu lüften? Tatataa, liebe Hazel, dein Vater ging gar nie zur See. Er lebte all die Jahre auf der anderen Seite der Stadt. Und er kam nie vorbei, weil er dich nicht kennenlernen wollte. Aber heute Abend ist er hier!
    Mason rutschte nervös auf seinem Stuhl herum, checkte das Smartphone und sah erneut auf die Uhr. Schliesslich ging die Tür zur Küche auf und die Kellnerin brachte einen grossen Teller mit einem Cheeseburger und Pommes Frites. Sie stellte ihn auf den Tisch, daneben eine grosse Flasche Ketchup, und sah Mason fragend an. »Immer noch nichts für Sie?«
    »Nein, danke, ich … sollte weiter.« Er wandte sich an Hazel, die ihn fragend ansah, und holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Aktentasche. »Ich notier dir die Nummer meines Geschäftshandys. Für Catherine. Sie soll mich doch einfach unter dieser Nummer anrufen, wenn sie etwas mit mir besprechen möchte. Gibst du ihr den Zettel bitte?«
    Hazel nickte und sah die Nummer an, die er auf den Zettel geschrieben hatte. »Okay«, meinte sie leise.
    »Es … es tut mir leid«, stammelte Mason. »Aber ich muss wirklich los. Kann ich dich so alleine lassen? Kommst du klar?«
    Hazel nickte schweigend.
    »Gut, dann … dann geh ich mal wieder. Hat mich … hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Noch einen schönen Geburtstag.« Er stand auf und schlüpfte in seinen Mantel.
    Hazels blaue Augen hingen an seinen. Mason musste sich zwingen, sich loszureissen. Er versuchte es mit einem Lächeln. »Mach’s gut, Hazel!« Dann wandte er sich hastig ab und trat an den Tresen. Die Kellnerin sah ihn fragend an.
    »Ich möchte gerne bezahlen«, erklärte er und holte sein Portemonnaie hervor. »Das Essen der Kleinen und die Cola gehen ebenfalls auf mich und … Bringen Sie ihr später noch ein Stück Kuchen, so einen Geburtstag sollte man feiern. Sie haben doch Kuchen? Oder ein Eis vielleicht?«
    »Am liebsten mag sie den Coupe Dänemark«, verriet die Frau mit einem Augenzwinkern.
    »Sehr gut, danke, dann setzen Sie mir den bitte auch gleich auf die Rechnung.« Er hielt ihr die Kreditkarte hin. »Kommt es oft vor, dass Catherine mit ihr hier abmacht und nicht auftaucht?«
    Die Frau sah ihn fragend an.
    »Ich meine, kommt die Kleine alleine zurecht?«
    Die Frau nickte und nahm die Kreditkarte entgegen. »Catherine wohnt nicht weit von hier. Das ist ihr Stammlokal. Wir passen hier auf Hazel auf, keine Sorge.« Sie schob die Kreditkarte ins Lesegerät und reichte es ihm, damit er den PIN-Code eingeben konnte. Danach gab sie ihm die Quittung. »Besten Dank. Einen schönen Abend.«
    Mason warf einen letzten Blick zum hintersten Tisch, von wo aus Hazel ihn immer noch unverwandt beobachtete. Er hob zaghaft die Hand zum Gruss, dann drehte er sich um und verliess eilig das Lokal.

  • 2. Kapitel

    Nach dem Cheeseburger brachte Josefine Hazel noch einen Coupe Dänemark mit einer brennenden Wunderkerze darauf. Sie setzte sich zu ihr und versuchte, aus Hazels Geometrie-Aufgaben schlau zu werden, konnte ihr aber nicht weiterhelfen. »Das ist nie meine Stärke gewesen«, entschuldigte sie sich.
    Hazel zuckte mit den Schultern. »Es macht nichts«, murmelte sie. »Ich will ohnehin Tänzerin werden. Und dafür brauche ich keine Geometrie.«
    Josefine lachte. »Ich bin sicher, ich werde dich mal auf einer grossen Bühne tanzen sehen.«
    Hazel lächelte. »Danke für den Nachtisch, Jo.«
    »Der war nicht von mir, Süsse, der war von dem Herrn, der hier war.«
    Hazel machte grosse Augen. »Oh! Ich dachte, er wäre von der Tanzakademie, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. »Egal! Ich glaube, ich sollte mal nach Hause.«
    Josefine erhob sich. »Mach das. Ruf an, falls deine Mutter nicht zuhause ist.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »So, ich muss weitermachen.«
    Hazel schenkte ihr ein warmes Lächeln und sah ihr nach, als sie hinter dem Tresen verschwand. Dann packte sie ihr Unterrichtsmaterial in ihren Rucksack, zog die Jacke an und stand auf. Im Vorbeigehen winkte sie und Josefine eilte ihr hinterher und steckte ihr noch ein Tütchen Gummibärchen zu. Dann stand sie draussen auf dem Gehweg.
    Sie hätte das Tram nehmen können, aber sie zog es vor, zu Fuss zu gehen. Sie hatte es nicht eilig. Sie schlenderte durch die Strassen und kickte eine leere Zigarettenpackung vor sich her, während sie ein Gummibärchen nach dem anderen zerkaute. Auf dem heruntergekommenen Quartier-Spielplatz vor ihrem Haus traf sie die Nachbarsjungen beim Breakdance.
    »Hi Haz!«, rief ihr einer der Jungs zu. »Machst du mit?«
    Hazel sah zu ihrer Wohnung hoch. In der Küche brannte Licht. Sie schüttelte den Kopf, dass die Haare in alle Richtungen flogen. »Heute nicht, ich muss mal nach meiner Mutter sehen.«
    Sie rannte die Treppen hinauf, den Laubengang zur letzten Wohnungstür hinunter und stiess die Tür auf. »Mama?!« Sie warf ihren Rucksack hin, schlug die Tür laut zu und kickte die Schuhe von den Füssen.
    »Hazel?«
    Hazel blickte hoch. Ihre Mutter stand im Flur. Sie sah verschlafen und etwas desorientiert aus und hatte sich in eine Wolljacke gewickelt.
    »Wo warst du?«, schimpfte Hazel. »Wo hast du gesteckt? Du hast mich mit irgendeinem Typen bei Jo sitzen gelassen! Was hast du dir nur dabei gedacht?!«
    Hazel sah, wie ihre Mutter, die ohnehin schon blass war, noch bleicher wurde. »Oh, wie spät ist es denn?« Sie warf einen verwirrten Blick auf ihre Uhr. »Mist, ich muss eingeschlafen sein. Ich hatte so starke Kopfschmerzen, da habe ich zwei Tabletten genommen. Ich wollte doch fit sein heute Abend! Und dann habe ich mich noch einen Augenblick hingelegt, nur kurz … Ich habe gar nicht gemerkt …« Sie sah Hazel zerknirscht an. »Das tut mir so leid«, flüsterte sie.
    Hazel erwiderte den Blick finster, dann senkte sie den Kopf. »Schon gut«, murmelte sie. »Dein Typ war allerdings nicht sehr erfreut, dass du ihn extra hinbestellst und dann nicht aufkreuzt.«
    »Welcher Typ?«, fragte Catherine verwirrt. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Mason! Dann ist er gekommen? Wie findest du ihn?«
    Hazel verdrehte die Augen. »Mama, wenn du einen Kerl kennenlernen möchtest, solltest du selbst zum Date gehen, nicht mich hinschicken.« Sie schob sich an ihrer Mutter vorbei und verschwand im Badezimmer.
    Als sie wieder auf den Flur trat, stand ihre Mutter immer noch da in ihrer Wolljacke, die ihr viel zu gross war. »Dann hast du schon gegessen?«
    Hazel nickte. »Du?«
    Catherine schüttelte den Kopf und lehnte sich müde an die Wand. »Du weisst, dass ich nicht essen kann, wenn ich diese starken Kopfschmerzen kriege. Das schlägt mir auf den Magen. Ausserdem bin ich danach immer so müde.«
    »Dann leg dich doch wieder hin«, schlug Hazel vor. »Ich kann dir was zu essen bringen, wenn die Kopfschmerzen nachgelassen haben.«
    Catherine lächelte und zog ihre Tochter in eine feste Umarmung. »Was würde ich nur ohne dich machen?«, flüsterte sie und begann zu weinen.
    Hazel löste sich ruckartig aus ihren Armen. »Leg dich hin, Mama. Ich bin gleich bei dir.« Sie verschwand in der Küche, öffnete den Kühlschrank und untersuchte den Inhalt. Schliesslich entschied sie sich für die restlichen Spaghetti vom Vortag, holte eine Pfanne und begann, Spaghetti plus Sauce aufzuwärmen. Sie stellte einen Teller und ein Glas auf ein Tablett, legte Gabel und Suppenlöffel dazu, schenkte Wasser ein, rührte in den Spaghetti und wartete, bis sie warm waren. Dann streute sie etwas Reibkäse darüber, kippte alles auf den Teller, vergewisserte sich, dass der Herd ausgeschaltet war und die leere Pfanne nicht mehr auf der heissen Herdplatte stand, nahm das Tablett und verliess die Küche.
    Catherine hatte sich ins Bett zurückgezogen. Sie setzte sich lächelnd auf, als Hazel zögernd auf der Schwelle erschien. »Du bist ein Schatz, Hazel, danke dir!« Sie nahm das Tablett entgegen und Hazel kuschelte sich neben sie.
    »Und du bist sicher, du möchtest nichts?«
    Hazel schüttelte den Kopf. »Ich hatte einen Cheeseburger mit Pommes und einen Coupe Dänemark.«
    »Die liebe Jo«, murmelte Catherine, während ihr erneut Tränen in die Augen traten.
    Hazel beobachtete sie stumm. Nach einer Weile flüsterte sie: »Du solltest zum Arzt, Mama. Es wird wieder schlimmer.«
    »Ich weiss, Schatz.«
    »Warum machst du es dann nicht?«
    »Ich weiss doch, was dann kommt«, erklärte Catherine. »Er wird mich wieder in eine Klinik schicken. Aber ich will nicht mehr! Ich kann dich doch nicht schon wieder im Stich lassen.»
    »Ich komme schon klar. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.«
    »Ich weiss«, schluchzte Catherine. »Aber ich vermisse dich dort jeden Tag. Das halte ich nicht noch einmal aus.«
    »Vielleicht kann dir der Arzt andere Medikamente geben …«
    Catherine nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie holte tief Luft. »Ich werde anrufen. Versprochen! Wie war es heute in der Schule?«
    Hazel zuckte mit den Schultern. »Wie immer.«
    »Hast du Hausaufgaben?«
    »Schon gemacht.«
    »Alles?«
    »Ja …« Hazel zögerte. »Fast alles … Ich will nicht mehr. Schliesslich ist mein Geburtstag«, fügte sie mit leichtem Trotz an.
    Catherine strich ihrer Tochter über die Haare. »Und ich wollte mit dir nach dem Abendessen noch ins Kino gehen. Magst du trotzdem noch hingehen?«
    Hazel schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. »Vielleicht besser am Wochenende, Mama. Morgen muss ich doch zur Schule. Ich bin müde.« Sie seufzte schwer.
    Catherine gähnte. »Ich ja auch … Willst du hier schlafen, Maus?«

    Beinahe hätte Hazel am nächsten Morgen ihren Wecker im Zimmer nebenan nicht gehört. Als sie endlich hochschreckte, brauchte sie einen Augenblick, bis sie das Geräusch identifizieren konnte. Sie rollte sich zur Seite und glitt leise aus dem Bett. Ihre Mutter schlief tief und fest. Hazel tapste in ihr Zimmer hinüber und schaltete den Wecker aus, dann zog sie frische Kleider an und ging in die Küche. Der Teller mit den verkrusteten Resten, die Catherine nicht hatte fertig essen mögen, stand neben der Spüle. Hazel öffnete den Kühlschrank und holte Milch heraus. Sie schüttete die letzten Frosties aus der Müesli-Packung und notierte, dass sie welche kaufen musste.
    Sie zog die Krimskrams-Schublade auf und holte das Haushaltsportemonnaie hervor. Sie nahm die Zwanzigernote heraus, die es noch darin hatte, und stopfte sie in die Gesässtasche ihrer Jeans, dann setzte sie sich auf den Tisch, stellte die Füsse auf den Stuhl und nahm ihre Müeslischale in die Hand. Hastig schaufelte sie die Cerealien in den Mund, schlürfte die Milch und strich sich, nachdem sie die Schale abgestellt hatte, mit dem Handrücken über den Mund. Dann fiel ihr der Termin ein. Das Gespräch mit der Schulleiterin.
    Sie stellte die Schale in die Spüle, ging sich die Zähne putzen, bürstete ihre langen Haare und nahm sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Einen Augenblick stand sie unschlüssig an der Schwelle zu Catherines Schlafzimmer.
    »Mama?«
    Catherine murmelte etwas und drehte sich auf die andere Seite.
    »Mama!«, bat Hazel etwas lauter.
    Catherine öffnete die Augen. »Ach, du bist schon fertig angezogen? Wie spät ist es denn?«
    »Halb acht, ich muss gleich los.«
    Catherine setzte sich langsam auf und gähnte verschlafen. Dann lächelte sie. »Mein grosses Mädchen«, murmelte sie. »Schon so selbständig. Hast du gegessen?«
    Hazel nickte. »Aber jetzt hat es kein Müesli mehr.«
    »Macht nichts, Schatz. Im Tiefkühler hat es noch Toast, davon nehme ich mir zwei Scheiben.«
    Hazel nickte. Sie zögerte einen Augenblick, dann bat sie leise: »Du solltest wirklich deinen Arzt anrufen, okay?«
    Catherine nickte. »Werde ich, versprochen.«
    »Und um vier ist das Elterngespräch.«
    Catherine bekam grosse Augen. »Was für ein Gespräch?«
    »Mit der Schulleiterin. Wegen … neulich.«
    »Die Sache mit Emma?«
    Hazel nickte und biss sich auf die Lippen. Emma hatte ihre Mutter eine Psychotante genannt und Hazel einen Freak und da war Hazel ausgerastet. Sie hatte sie angeschrien und geschubst. Etwas gar heftig. Emma war gestürzt und hatte sich den Kopf am Türrahmen gestossen. Anschliessend war Hazel noch auf ihre Brille getreten.
    »Das hätte ich glatt vergessen«, gestand Catherine.
    Hazel zuckte mit den Schultern. »Mir egal. Aber ich glaube, Frau Torino wird sauer, wenn wir nicht erscheinen.« Ursprünglich hätte es ein Gespräch mit dem Klassenlehrer werden sollen, aber nachdem Hazel und Catherine zum vereinbarten Termin nicht erschienen waren, hatte der Lehrer die Sache an die Schulleitung übergeben. Hazel hatte ihm versichert, dass so etwas nie mehr vorkommen und ihre Mutter dieses Mal pünktlich zum Gespräch erscheinen würde. Das hoffe er, hatte ihr Lehrer geantwortet und angefügt, dass er andernfalls die Beiständin, Frau Gabriel, hinzuziehen würde.
    Hazel wusste, dass ihre Mutter Frau Gabriel nicht mochte. Die Beiständin trat immer dann auf den Plan, wenn in Hazels Leben etwas ganz schief lief. Wie damals, als Mama eine Weile lang einen Freund gehabt hatte, der zu viel Alkohol getrunken und auch mal zugeschlagen hatte. Einmal hatte er sich so heftig mit Mama gestritten, dass Hazel dazwischen gegangen war, um die beiden zu trennen. Da hatte er sie verprügelt. Er war rasend vor Wut gewesen und Catherine hatte alle Mühe gehabt, ihn wieder zu beruhigen. Die Schramme, die Hazel sich am Esstisch geholt hatte, hatte mit zehn Stichen genäht werden müssen. Offenbar hatte ihre Unterstufenlehrerin ihr nicht geglaubt, dass sie auf dem nassen Boden ausgerutscht und gegen den Briefkasten gefallen war. Davon kriege man doch keine blauen Flecken an Armen und Beinen, hatte sie gemeint. Und eine Mieterin im gleichen Haus, die das Geschrei gehört hatte, hatte sich beim Jugendamt gemeldet.
    Seither kam Frau Gabriel immer dann, wenn es Probleme gab. Deshalb mochte Catherine sie nicht, und auch Hazel fand, dass sie sich nicht einmischen sollte. Catherine und sie kamen gut alleine zurecht. Meistens wenigstens. Als Catherine aber plötzlich in schweren Depressionen versunken war und nur noch weinend im Bett gelegen hatte, war Hazel dann doch erleichtert gewesen, als Frau Gabriel nach drei Tagen von einer Nachbarin davon erfahren und alles in die Wege geleitet hatte: Catherine war für ein paar Wochen in eine Klinik gegangen und Hazel zu einer Familie in Pflege gekommen. Das hatte nicht so gut geklappt, aber Frau Gabriel war ziemlich geduldig gewesen und hatte eine andere Familie gesucht. Bis Hazel schliesslich zu Rosa-Ana Diener gekommen war. Dort war sie seither schon ein paarmal gewesen, wenn ihre Mutter etwas Ruhe gebraucht hatte.
    »Ich werde in der Schule sein«, versprach Catherine und seufzte. »Um vier Uhr. Und sobald du weg bist, rufe ich den Arzt an und frage, ob er heute noch Zeit für mich hat, okay?«
    Hazel nickte und wandte sich ab.
    »Hazel?«
    Hazel drehte sich in der Tür noch einmal um.
    »Du bist so selbstständig. Ich bin sehr stolz auf dich.«
    Hazel versuchte zu lächeln und nickte stumm. Im Flur zog sie Schuhe und Jacke an, schwang ihren Rucksack über die Schulter und verliess die Wohnung.

  • 3. Kapitel

    Hazel sprang mit einem Satz auf den Schreibtisch und von da mit einem Salto auf das Fensterbrett, warf sich aus dem Fenster, kriegte den dicken Ast der Linde im Hof zu fassen, machte einen Felgaufschwung, sprang auf den Abfalleimer hinunter und landete katzengleich auf dem Schulhof.
    Zumindest hätte sie das gemacht, wäre das Fenster nicht geschlossen gewesen.
    »Hazel Miller!«
    Hazel zuckte zusammen und blickte in die ungeduldig funkelnden Augen der Schulleiterin.
    »Meine Geduld ist allmählich zu Ende.«
    Meine auch. »Sie wird bestimmt gleich kommen«, beschwichtigte Hazel. Vielleicht könnte sie sich mit der Schulter gegen die Scheibe werfen. Wie John McClane. Durch einen Scherbenregen zum Baum hinüberhechten, der Rest bliebe gleich: Rückwärtsrolle um den Ast, Abfalleimer, katzengleiche Landung.
    »Hörst du mir überhaupt zu, Hazel?«
    Nein. »Ja.«
    Frau Torino durchbohrte sie mit ihrem Blick. »Nun, was habe ich gesagt?«
    Wahrscheinlich die Sache mit der Brille. »Wegen Emmas Brille?« Hazel sah dem Blick der Schulleiterin an, dass sie richtig geraten hatte.
    »Und was hast du dazu zu sagen?«
    Ganz ehrlich? Nicht viel! »Sie lag auf dem Boden, ich sah sie nicht, bis ich darauf trat.«
    »Es gibt Kinder, die gesehen haben, dass du mit voller Absicht darauf getreten bist. Was sagst du dazu?«
    Hazel seufzte ungeduldig. Was sollte sie dazu schon sagen?
    »Emmas Vater hat mich angerufen«, fuhr die Schulleiterin fort. »Die Brille muss ersetzt werden, er wird die Rechnung deiner Mutter schicken.«
    Hazel zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. »Okay. Sonst noch was?«
    »Von dir erwarte ich, dass du dich bei Emma entschuldigst.«
    Hazel verdrehte die Augen. »Muss das sein?! Sie mag mich nicht, ich mag sie nicht. Am besten ist es, wenn wir uns nicht zu nahe kommen.« Ein vernünftiges Argument!
    Die Schulleiterin musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Hazel, dieser Ton gefällt mir gar nicht. Ausserdem sollte deine Mutter zum heutigen Termin ebenfalls erscheinen.«
    »Vielleicht habe ich es ihr etwas zu kurzfristig gesagt«, versuchte Hazel ihre Mutter zu verteidigen. »Sie arbeitet heute und kann nicht einfach fehlen.«
    Frau Torino seufzte sichtlich genervt. Ihre Augen schickten Blitze in Hazels Richtung. Sie drehte sich zum Computer um und begann entschlossen, auf die Tastatur zu hämmern.
    »Kann ich gehen?«, fragte Hazel ungeduldig und tippte nervös mit dem linken Fuss auf den Boden.
    »Noch nicht, Hazel Miller!« Frau Torino tippte schwungvoll auf eine Taste, worauf der Drucker hinter ihr zum Leben erwachte. Sie schwang den Stuhl herum, nahm das Papier aus dem Ausgabefach, las es kurz durch und setzte dann ihre Unterschrift darunter. Darüber kam ein offizieller Schulstempel. Sie wedelte das Papier einen Augenblick in der Hand, damit die Stempelfarbe trocknete, stopfte das Ganze in einen Umschlag und klebte ihn zu. »Hier, für deine Mutter. Du bringst mir den Zettel morgen vor der ersten Unterrichtsstunde unterschrieben zurück, sonst sehe ich mich gezwungen, Frau Gabriel einzuschalten.«
    Hazel nickte stumm. Die Schulleiterin reichte ihr den Umschlag, hielt ihn aber noch einen Augenblick lang fest und musterte Hazel streng. »Ich hoffe, ich sehe dich nicht so bald wieder in meinem Büro.«
    Das hoffte Hazel auch. Auf dem Nachhauseweg ging sie noch im Denner vorbei und kaufte ein, was sie für nötig hielt. Sogar ein paar Karotten und einen Eisbergsalat legte sie zur Müeslipackung, der Milch und der Schokolade in den Korb, während sie im Kopf die Preise zusammenrechnete, damit es auch sicher reichte.

    Als Hazel nach Hause kam, war ihre Mutter nicht da. Hazel legte den Umschlag der Schulleiterin gut sichtbar auf den Küchentisch und packte wütend ihre Hausaufgaben aus. Sie hatte sich Mühe gegeben, die Strafpredigt der Schulleiterin an sich abperlen zu lassen, aber sie mochte es nicht, so kritisiert zu werden. Was wusste die Frau schon?! Was Emma gesagt hatte, interessierte sie nicht, nur die kaputte Brille.
    Hazel starrte ins Leere. Sie war auch wütend auf ihre Mutter, obschon sie versuchte, das zu ignorieren. Sie wusste, dass ihre Mutter nichts dafür konnte; sie war krank. Aber dennoch fand Hazel, dass sie zum Elterngespräch hätte erscheinen müssen. Und jetzt gerade wäre es auch ganz nett, wenn sie bald käme und ihr bei diesen Aufgaben half, sonst drohte schon bald ein weiteres Gespräch wegen Hazels mangelnder Arbeitshaltung, wie ihr Lehrer das gerne nannte.
    Hazel riss eine Packung Kekse auf und knabberte lustlos auf einem herum, während sie auf das Diktat starrte, das sie am übernächsten Tag hatten. Schliesslich legte sie es zur Seite – sie konnte es sich schlecht selbst diktieren –, öffnete stattdessen ihr Mathematikheft und versuchte, die Aufgaben zu lösen. Es schien ihr sinnlos. Das würde sie in ihrem Leben nie mehr brauchen. Entnervt schlug sie das Heft zu, griff zum Telefon und wählte die Handynummer ihrer Mutter. Nach dreimaligem Klingeln schaltete sich die Combox ein.
    »Mama, wo bist du?«, fragte Hazel, wartete einen Augenblick und unterbrach die Verbindung. Eine Weile starrte sie auf die Tischplatte vor sich, dann stand sie abrupt auf. Sie trat auf den Laubengang hinaus und sah zum verwaisten Spielplatz hinüber. Es war bald Abendessenzeit, und da verschwanden die Mütter mit Kleinkindern und der Platz gehörte den Grossen. Zugegeben, Hazel war noch nicht so gross, umso stolzer war sie, dass sie dazugehörte. Als sie auf der gegenüberliegenden Seite die beiden schwarzen Zwillinge aus ihrem Wohnblock kommen sah, rannte sie in die Wohnung zurück, zog ihre Turnschuhe an und schlüpfte in ihre Jacke.
    Die beiden Jungs hatten bereits den Bluetooth-Lautsprecher eingeschaltet, als Hazel atemlos auf dem Spielplatz erschien. »Hi Haz«, grüssten die beiden abwesend. Sie bewegten sich wie Roboter zum Beat der Musik. Hazel beobachtete sie einen Augenblick aufmerksam, bevor sie ihre stakkatoartigen Bewegungen zu imitieren begann. Nach und nach kamen weitere Jugendliche dazu. Alle, die was draufhatten beim Tanzen. Sie bildeten einen Kreis und sahen einander beim Performen zu.
    Hazel war die Jüngste. Sie war stolz, sich einen kleinen Platz in dieser Dance-Crew erobert zu haben. »Es gibt dümmere Arten, seine Zeit zu vertreiben«, meinte ihre Mutter dazu. »Versprich mir nur, dass du keinen Alkohol und keine Drogen anrührst.« Und da sie vom Laubengang aus direkt zum Spielplatz hinüberblicken konnte, hatte sie keine Bedenken, Hazel mit den Grossen abhängen zu lassen.
    Hazel hatte in allen Räumen das Licht angezündet, bevor sie nach draussen gegangen war. Jetzt im Dunkeln wirkte die Wohnung vom Spielplatz aus bewohnt und einladend. Hazel stellte sich vor, wie ihre Mutter inzwischen nach Hause gekommen war und ein Abendessen zubereitete.
    »Haz?«
    Hazel hob erstaunt den Blick. Bob, der grössere der Zwillinge, musterte sie fragend.
    Hazel hob die Augenbrauen.
    »Ob du auch dabei bist?«
    »Wobei?«
    Bob verdrehte die Augen. »Du hast nicht zugehört, ich hab’s gedacht. Starrst zu eurer Wohnung rauf, als hättest du sie noch nie gesehen … Wir möchten uns im nächsten Frühling für die Qualifikation zu den Schweizer Meisterschaften im Streetdance anmelden. Ich habe gefragt, ob du dabei bist?«
    »Ich?« Hazel bekam grosse Augen. »Ihr würdet … würdet mich echt mitnehmen?«
    Bob zuckte mit den Schultern. »Klar, du gehörst doch auch dazu. Ich meine … du schaffst den Backflip aus dem Stand und dein Head Spin wird immer besser. Und diese Capoeira-Dinge, die du machst, die bauen wir auch ein ... Wird viel Arbeit. Wir wollen in der Schule fragen, ob wir jeweils am Dienstagabend in der Turnhalle trainieren können.«
    »Und wer macht die Choreo?«
    Bob schob die Unterlippe vor. »Na wir zusammen ... Und Thomy fragt seine Cousine, die geht auf die MDA und will mal Choreografin werden. Macht nächstes Jahr ihren Abschluss. Falls sie zusagt und uns unterstützt, kannst du bei dieser Gelegenheit gleich ein bisschen mit ihr über die Schule quatschen.«
    Hazel lächelte und nickte. »Ja, ich bin dabei. Klar, sicher!«
    So musste sich Glück anfühlen. Hazel sprang auf die Bank, machte einen Backflip auf den Boden und lachte. Um sie herum bewegten sich alle im Einklang mit den Hip-Hop-Klängen aus dem Lautsprecher und Hazel spürte, wie der Rhythmus durch sie hindurch floss, während die Welt um sie herum sich langsam auflöste, bis nur noch sie übrig war. Sie und die Musik …

    Der Alltag kam unerbittlich zurück, als Bob die Musik ausschaltete. »Wir müssen nach Hause«, meinte er entschuldigend, und Hazel merkte, dass nur noch Bob, Nathan und sie auf dem spärlich beleuchteten Spielplatz waren. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wohl auch«, meinte sie. »Dann bis morgen.«
    Wieder zuhause wanderte sie durch die ganze Wohnung. Jedes Mal, wenn sie einen Raum betrat, hatte sie das Gefühl, ihre Mutter im nächsten Zimmer zu hören, aber die Wohnung war genauso leer wie zuvor. Sie schien Hazel trotz der überall brennenden Lampen jetzt, als es draussen dunkel war, sogar noch eine Spur leerer zu sein. Hazel ass eine Schale Cornflakes mit Milch. Nachdem sie die Schale ausgespült hatte, ging sie duschen, putzte die Zähne und trocknete die Haare. Dann kroch sie ins Bett ihrer Mutter. Hier würde sie sie spüren, wenn sie nach Hause kam, sich mit tausend Küssen bei ihr entschuldigte und sie in die Arme schloss. Ich liebe dich, Hazel, vergiss das nie. Ich liebe dich!
    Unter dem Kopfkissen lag das Smartphone ihrer Mutter. Zwei Anrufe in Abwesenheit stand auf dem Display und eine Erinnerung an den Termin in der Schule. Hazel legte das Telefon auf den Nachttisch, löschte das Licht und vergrub das Gesicht im Kopfkissen, das nach ihrer Mutter roch.

    Der Wecker riss Hazel aus einem wunderschönen Traum. Sie tanzte auf einer grossen Bühne im warmen Scheinwerferlicht vor einem begeisterten Publikum, das von den Stühlen aufsprang und zum Takt in die Hände klatschte. Hazel setzte sich schlaftrunken auf und sah sich um. Ihre Mutter war nicht zurückgekommen, das spürte sie sofort. Dennoch ging sie noch einmal suchend durch alle Zimmer der kleinen Mietwohnung. Langsam wurde sie nervös. Sie riss den Umschlag der Schulleiterin auf und las das Schreiben an ihre Mutter. Sie wurde darin aufgefordert, einen der folgenden drei Termine anzukreuzen, da ein Gespräch über Hazels Verhalten dringend von Nöten sei. Hazel kreuzte den dritten an, der lag am weitesten entfernt, und unterschrieb mit dem Namen ihrer Mutter. Sie wollte nicht, dass die Schulleiterin Frau Gabriel anrief. Vielleicht war ihre Mutter am Nachmittag ja wieder zu Hause; dann brauchte niemand zu erfahren, dass sie Hazel eine Nacht lang allein gelassen hatte. Sie war ja schliesslich kein kleines Kind mehr.
    Den Umschlag gab sie gleich vor der ersten Unterrichtsstunde ihrem Klassenlehrer ab, um der Schulleiterin nicht in die Augen schauen zu müssen. Sie hielt den ganzen Tag lang den Kopf unten, liess im Matheunterricht die Tirade des Lehrers über sich ergehen – der kleine Teil der Aufgaben, den sie gemacht hatte, war mehrheitlich falsch – und ignorierte das Kichern hinter sich. Zu Mittag hatte Hazel keinen Appetit und keine Lust, in den lauten Schulhort voll kleiner Kinder zu gehen, auch wenn sie wusste, dass ihr Nicht-Erscheinen für weiteren Ärger sorgen würde. Sie kaufte sich stattdessen ein Sandwich vom letzten Geld und zog sich zum Fahrradunterstand zurück, wo ein paar ältere Schüler herumhingen und rauchten, sie aber in Ruhe liessen, als sie merkten, dass sie sich nicht von ihnen necken liess.
    Hazel brachte die Nachmittagslektionen hinter sich, ohne sich konzentrieren zu können, und hätte sich deswegen beinahe noch eine Strafarbeit eingefangen. Je näher das Ende des Schultages rückte, umso angespannter war sie. Sie fragte sich, ob ihre Mutter schon wieder zurückgekommen war und wie es ihr ging. Und was sie machen sollte, falls ihre Mutter immer noch nicht da war. Der Nachhauseweg dauerte doppelt so lange wie sonst. Hazel hatte plötzlich das Bedürfnis, noch im nahegelegenen Park vorbeizufahren und ein paar Freerun-Runden über Parkbänke, Mäuerchen und Abfalleimer zu üben, bevor sie endgültig nach Hause ging. Das würde ihrer Mutter noch etwas mehr Zeit geben, wieder in Ordnung zu kommen.

    Zuhause stellte Hazel fest, dass sie immer noch alleine war. Der Anrufbeantworter blinkte. Es war der Hausarzt, der ihre Mutter um einen Rückruf bat. Hazel rang mit sich und ihrer langsam aufkeimenden Panik, die dann allerdings schlagartig überhand nahm. Hazel begann zu zittern. Sie tigerte noch eine Weile durch die leere Wohnung, bevor sie sich eingestand, dass kein Weg darum herum führte, Frau Gabriel anzurufen. Ihre Handynummer hing am Kühlschrank und Hazel wählte mit zitternden Fingern.
    »Hier Gabriel, wer ist am Apparat?«
    »H-hazel Miller.«
    »Hazel?« Die Stimme der Beiständin bekam eine besorgte Note. »Ist etwas passiert?«
    »Ich weiss nicht. Meine Mutter ist nicht zuhause.«
    »Vielleicht ist sie noch bei der Arbeit. Hat sie keine Nachricht geschrieben?«
    »Nein. Ich glaube nicht, dass sie arbeitet.«
    »Seit wann ist sie weg?«
    »Seit gestern.«
    Eine Weile herrschte Stille in der Leitung, dann räusperte sich Frau Gabriel. »Okay, Hazel, es ist gut, dass du angerufen hast. Wir machen Folgendes. Ich rufe in der Reinigung an und frage, ob deine Mutter dort ist oder ob jemand weiss, wo sie sein könnte. Kannst du inzwischen deine Tasche packen? Ich gebe Rosa-Ana Bescheid. Dann hole ich dich ab und bringe dich zu ihr.«
    Hazel schwieg.
    »Hazel?«, hörte sie Frau Gabriels Stimme. »Bist du noch am Telefon?«
    »Ja.«
    »Versuch dir nicht allzu viele Sorgen zu machen. Wir finden deine Mutter schon wieder.«
    »Okay.« Hazels Stimme war zu einem Flüstern geschrumpft. Sie lauschte noch eine Weile dem Freizeichen in der Leitung, dann ging sie in ihr Zimmer. Kurz überlegte sie, ob sie einfach nach draussen gehen sollte, aber schliesslich holte sie ihre Sporttasche aus dem Schrank und packte ein, was sie einpacken musste, frische Wäsche, Zahnbürste und Zahnpasta, einen Kamm, das Duschgel ihrer Mutter, das Turnzeug für übermorgen und ihr Kissen.

Hazel Blue

Hazel Blue

Seitenzahl

Taschenbuch, 480 Seiten

Preis

19.00 CHF

Kontakt

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