Noée
Sophie tat sich schwer damit, sich von ihrer Mutter zu lösen. Wenn Noée sie morgens in der Garderobe des Kindergartens verabschiedete, klammerte sie sich weinend an sie. Es brach Noée jedes Mal beinahe das Herz. Frau Meissner, eine sehr einfühlsame und herzliche Frau, versicherte ihr, Sophie beteilige sich zwar noch nicht am Freispiel, aber an den meisten Gruppenaktivitäten und sie fühle sich nach ihrer Einschätzung durchaus wohl in der Klasse. Das stimmte mit Noées Eindruck überein: Sophie erzählte jeden Mittag, was sie im Kindergarten gemacht hatten, und sang die Lieder vor, die sie gelernt hatte.
Ab und zu erzählte sie von den Zwillingen Isabel und Jessica und von Leo, dem Jungen, der sie am ersten Tag angesprochen hatte. Frau Meissner bestätigte Noée, dass Leo Sophie ab und zu zum Spielen auffordere, Sophie sich allerdings noch nicht recht traue. »Ich habe ihm erklärt, dass sie ganz neu hierher gezogen und deshalb noch sehr schüchtern ist, dass sie sich aber bestimmt freut, einen Freund zum Spielen zu haben. Das hat er sich offenbar zu Herzen genommen«, fuhr sie fort. »Ich sorge dafür, dass die zwei bei Gruppenaktivitäten gelegentlich zusammenarbeiten. Sie verstehen sich sehr gut.«
Noée war erleichtert zu hören, dass Sophie nicht den ganzen Morgen unglücklich und das Problem lediglich die Ablösung von ihr war. Sie hatte den Verdacht, dass sie selbst nicht ganz unschuldig an der Situation war. Zwar gönnte sie Sophie die Möglichkeit, neue Freunde zu finden und mit Gleichaltrigen zu lernen und zu spielen; sie spürte allerdings ein starkes Unbehagen bei der Vorstellung, Sophie in einer Gruppe mit zwanzig ihr fremden Kindern sich selbst zu überlassen. Vermutlich übertrug sich dieses Unbehagen auf Sophie.
»Sie sollten versuchen, sich zu entspannen«, riet ihr Frau Meissner und versicherte ihr abermals, dass sich Sophie wohlfühle, auch wenn sie noch etwas zurückhaltend sei. »Manche Kinder brauchen einfach etwas länger … Sie ist ja erst seit wenigen Tagen im Kindergarten. Alles ist noch neu für sie.«
Noée wartete mit einer gewissen Ungeduld auf den Tag, an dem Sophie alleine in den Kindergarten gehen würde. Es war nicht bloss das Abschiednehmen jeden Morgen, das sie mitnahm; sie fürchtete ausserdem ständig, bei diesen Gelegenheiten Marc über den Weg zu laufen, und bei dieser Vorstellung verknotete sich regelmässig ihr Magen.
In der ersten Woche begegnete sie ihm dreimal im Kindergarten, war allerdings jedes Mal mit der weinende Sophie beschäftigt, weshalb sie vorgeben konnte, ihn nicht gesehen zu haben. Noée war in diesen Situationen regelrecht froh darum, dass Sophie sie so dringend brauchte und sie ihr ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken konnte. Ein Umstand, der Sophies Ablösungsprozess bestimmt nicht vereinfachte, dachte Noée mit einem Anflug von schlechtem Gewissen.
Es war ihr durchaus bewusst, dass sie einem Zusammentreffen mit Marc nicht ewig aus dem Weg gehen konnte. Offensichtlich war sie geradewegs in das Dorf gezogen, in dem auch Marc sich niedergelassen hatte. Was machte ein Städter wie er in einem Dorf? Ausserdem: Wie viele Dörfer gab es in dieser Agglomeration wohl? Und es verschlug sie genau in das Kaff, in dem einer der Menschen lebte, denen sie nie mehr hatte begegnen wollen? Welche Ironie!
Als sie sich ihr Pech am ersten Abend bei einem Glas Rotwein in eine Decke gehüllt zum Soundtrack von Once durch den Kopf gehen liess, kamen ihr Tränen ohnmächtiger Wut. Am liebsten hätte sie das Weinglas gegen die Wohnzimmerwand geschleudert. Das hätte die Protagonistin in einem amerikanischen Film bestimmt getan … Allerdings musste diese anschliessend nicht die Scherben aufwischen und die Weinflecken entfernen und ihrem Kind erklären, wie es zu diesem Missgeschick gekommen war.
Noée stellte das Weinglas mit zitternden Händen auf den Couchtisch zurück. ›Leave‹, schrie Glen Hansard, und Noée schrie mit. In Gedanken wenigstens. Sie wollte Sophie nicht aufwecken, deshalb blieb sie stumm. Darin hatte sie Übung.
Vielleicht, sinnierte Noée, würde die Schauspielerin im Hollywood-Film hingehen und ihren Widersacher aus dem Schlaf klingeln. Sie würde ihn anschreien, wenn er verschlafen an der Türe erschien; ihm alle ihre Vorwürfe ins Gesicht schleudern und ihn warnen, ihr nicht zu nahe zu treten. Hinter ihr stünde ihr Freund, ein gut aussehender, furchteinflössender Typ, mit dem sich niemand freiwillig anlegte und der ihre Worte durch seine blosse Anwesenheit unterstrich.
Nur hatte Noée selber keines von beidem: weder einen Freund, noch einen wirklichen Grund und schon gar nicht das Recht, Marc anzuschreien. Er hatte ihr genau genommen nichts getan, was sie ihm vorwerfen konnte, es galt die Unschuldsvermutung …
Was also sollte sie ihm sagen, wenn sie ihm – auf die Dauer würde sich das nicht vermeiden lassen – wieder über den Weg lief? Er durfte unter keinen Umständen merken, welches Unbehagen seine Gegenwart in ihr auslöste! Weshalb sollte sie sich überhaupt unbehaglich fühlen? Sie hatte vor langer Zeit mit der Vergangenheit abgeschlossen. Es war ja schon eine Ewigkeit her, fast ein halbes Leben in ihrem Fall. Sie hatte überlebt und keinen Schaden davongetragen …
Noée fühlte einige Minuten lang diesem Gedanken nach und strich dabei den zerknautschten Schlafanzug auf ihren Oberschenkeln glatt. Es war eine Lüge, das war ihr klar, aber sie wollte sie glauben. Sie wollte sie so unbedingt glauben! Vor allem wollte sie, dass Marc ihre Lüge glaubte. Er sollte nicht merken, wie tief sie trotz aller Bemühungen auch heute noch in ihrer Vergangenheit feststeckte. Wie in einem zähen Sumpf aus flüssigem Teer.
Noée stand seufzend auf und schlurfte ins Bad. Dort stellte sie sich vor den Spiegel, wischte die Zahnpastaspritzer von ihrem – Neonlicht sei Dank – grünblassen Spiegelbild und eine Haarsträhne aus ihren Augen und räusperte sich. »Hallo«, sagte sie in Gedanken und zwang sich, ihrem Spiegelbild in die Augen zu sehen. Sollte sie »Hallo Marc« sagen? Oder eher »Vonlanthen«? Ein Nachname klang etwas distanzierter, kühler … Oder besser gar keinen Namen? Das würde vielleicht unterstreichen, dass er ihr gleichgültig war. So gleichgültig, dass sie sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnerte.
Sie blickte ihr Spiegelbild mit zusammengekniffenen Augen an. »Hallo«, wiederholte sie. Und wie weiter? »Ich glaube, es ist …« Nein, sie glaubte es nicht, sie wusste es! »Ärgerlicherweise hat es uns ins gleiche Dorf verschlagen. Da es sich nicht mehr ändern lässt, schlage ich vor, wir versuchen einfach, einander so weit aus dem Weg zu gehen wie es möglich ist.« Nach diesen Worten würde sie sich ohne ihm Gelegenheit für eine Antwort zu geben stolz erhobenen Hauptes und gemessenen Schrittes entfernen. Noée putzte die Zähne und löschte das Licht.
Ihre Wege kreuzten sich ein paar Tage später erneut und dieses Mal konnte Noée nicht vorgeben, sie hätte Marc nicht bemerkt. Als sie Sophie im Kindergarten verabschiedete, wollte diese sie wie üblich partout nicht gehen lassen. Frau Meissner erklärte ihr geduldig, dies sei ein Kinder- und kein Elterngarten und ihre Mutter müsse nach Hause. »Es ist in Ordnung«, wandte sie sich an Noée. »Sie haben sich von Sophie verabschiedet und können jetzt gehen.«
Noée wollte möglichst schnell verschwinden, um Sophie nicht mehr wimmern hören zu müssen. Sie verliess hastig die Garderobe. Als Sophie mit einem Mutterherz-zerreissenden Schluchzer nach ihr rief, drehte sie im Laufen den Kopf und winkte ihr zum Abschied aufmunternd zu. Dann rannte sie ungebremst gegen eine Wand. Eine Beinahe-Wand. Solide, aber erstaunlich weich und warm. Zwei Hände packten sie, als sie benommen von der Wucht des Zusammenpralls rückwärts taumelte. Sie blickte hoch und erstarrte, als sie Marc erkannte und sich ihr Innerstes panikartig zusammenzog. Ihre Knie gaben nach und der Raum verschwamm vor ihren Augen.
Marc hielt sie an den Schultern fest, bis ihre Umgebung wieder scharfe Konturen annahm und sie den Boden wieder unter den Füssen spürte. Sie murmelte eine Entschuldigung und wollte sich an ihm vorbeidrängen, als ein Stoss in die Kniekehlen sie abermals aus dem Gleichgewicht brachte. Marc hielt sie erneut fest, sonst wäre sie rückwärts über Sophie gestürzt, die sich gegen ihre Beine geworfen hatte und ihr die Arme um die Knie schlang.
Noée drehte sich um, löste sich aus Sophies Umklammerung und beugte sich zu ihr hinunter. Mit einem Mal machten sich alle ihre aufgestauten Gefühle Luft: die Wut, sich jeden Morgen von ihrem weinenden Kind verabschieden zu müssen; das schlechte Gewissen, ihre Tochter in dieser Situation im Stich zu lassen; und das Gewicht der Demütigung, in dieser peinlichen Situation geradewegs dem letzten Menschen in die Arme gelaufen zu sein, vor dem sie Schwäche zeigen wollte!
»Sophie«, rief sie am Rand der Tränen. »Du. Musst. Hier bleiben. Bitte, versteh das doch endlich!« Am liebsten hätte sie ihre Tochter geschüttelt.
»Gehen Sie ruhig«, beruhigte sie die Kindergärtnerin, die ihr ansehen musste, dass sie einem Nervenzusammenbruch gefährlich nahe war, und nahm Sophie an der Hand. »Wir zwei schaffen das schon. Nicht wahr, Sophie? Und Leo ist auch gerade gekommen.«
Noée presste trotzig die Kiefer aufeinander, drängte sich mit gesenktem Blick und einer weiteren gestammelten Entschuldigung an Marc vorbei und flüchtete nach draussen ohne auch nur ein einziges Mal zurück zu schauen. Sie rannte die Strasse hinunter und hielt erst wieder, um zu verschnaufen, als sie um drei Hausecken gebogen und sicher war, dass ihr niemand folgte. Dort sank sie beim glücklicherweise noch leeren Spielplatz auf eine Bank. Nichts war aus ihrem grossspurigen Vorsatz, Marc kühl abzuservieren, geworden! Dabei hatte sie jeden Abend vor dem Spiegel geübt und sich selbst grimmig angesehen. Doch als es ernst gegolten hatte, hatte sie nicht einmal den Mut aufgebracht, ihn anzusehen.
Marc
Marc betrachtete die Bilder, die er von Jordans Scheune und dem Bauernhaus gemacht hatte. Sie lagen ausgebreitet neben einem Grundrissplan auf dem grossen Esstisch, den Leo und er nicht mehr zum Essen benützten, seit sie nur noch zu zweit lebten.
Das Projekt reizte ihn. Es war etwas ganz anderes als alles, was er bisher gemacht hatte. Es bot einen sanften Einstieg zurück ins Arbeitsleben, in den Beruf, den er so liebte. Er stand unter keinerlei Zeitdruck und war sein eigener Herr. Es war ein neuer Anfang. Sein Neuanfang. Er fühlte sich nach beinahe zwölf Monaten ohne Arbeit wieder fit genug, eine solche Herausforderung anzunehmen.
Marc lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nahm einen Schluck Kaffee. Eine einzige Tasse pro Tag, hatte sein Arzt ihm geraten. Dafür sollte er diese eine geniessen. Die erste Zeit war hart gewesen. Er hatte den Kaffee so sehr vermisst wie die Arbeit auch. Er war Architekt aus Leidenschaft und ebenso leidenschaftlicher Kaffeetrinker, aber er hatte das richtige Mass nicht gefunden, weder in der Arbeit noch beim Kaffeetrinken.
Als sein Architekturbüro den Zuschlag für ein Grossprojekt erhalten hatte, hatte er sich mit Feuereifer und zahlreichen Ideen in die Arbeit gestürzt. Doch dann kamen Einsprachen von Anwohnern, immer neue gesetzliche Auflagen; der Zeitplan wurde immer enger, während die Kosten bedrohlich stiegen. Von seinen kreativen Ideen musste er eine nach der anderen zu Grabe tragen. Verbissen arbeitete er weiter. Bis zur Erschöpfung. Gegen den Rest der Welt. Zu Hause erwarteten ihn eine frustrierte Ehefrau und ein quengelndes Kleinkind.
Irgendwann wuchs ihm alles über den Kopf. Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Gereiztheit waren die Folge. Lange ignorierte er die Warnungen seines Körpers, machte verbissen weiter, bis ihm die Sache endgültig entglitt und sein Kreislauf kollabierte. Daraufhin wurde er für einige Wochen krankgeschrieben. Sein Geschäftspartner riss sich das prestigeträchtige Projekt unter den Nagel, passte es seinen Vorstellungen an und stiess damit bei den Investoren auf grosse Begeisterung. Marc fühlte sich betrogen. Als er nach drei Wochen ins Büro zurückkam, wurde die Zusammenarbeit zusehends schwieriger, schliesslich unmöglich. Es folgte ein zweiter Zusammenbruch. Der Arzt diagnostizierte ein Burn-out, eine erschöpfungsbedingte Depression. Marc zog die Konsequenzen: Er kündigte und machte eine ärztlich begleitete Zwangspause.
Seine Frau Susan nutzte seine Arbeitsunfähigkeit und nahm ihre Forschungstätigkeit an der ETH wieder auf, die sie seit Leos Geburt zu ihrem grossen Bedauern nur noch auf Sparflamme hatte betreiben können. Und während alle in Marcs Umfeld Erfolge verbuchten und in ihrer Arbeit Befriedigung fanden, sass er zu Hause mit einem trotzigen Vierjährigen und versuchte, mit der schmerzlichen Demütigung fertigzuwerden, ohne Job dazustehen, sein entgleistes Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen und etwas zu finden, was seinem Leben einen Sinn und eine neue Richtung gab. Der Umzug aufs Land war ein erster wichtiger Schritt gewesen, das vorliegende Bauprojekt würde der nächste sein. Schritt für Schritt wollte er sich sein Leben zurückerobern.
Marc zwirbelte den Bleistift zwischen den Fingern. Der Zusammenstoss mit Noée am Morgen ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie war bei seinem Anblick leichenblass geworden. Er wusste, dass sie ihm gegenüber grosse Abneigung empfand, und er war sich bewusst, dass er daran nicht unschuldig war, doch die Heftigkeit ihrer Reaktion hatte ihn getroffen. Seit er sie am ersten Kindergartentag gesehen hatte, musste er oft an ihre gemeinsame Schulzeit denken. Daran, was Patrick, Robert und er gemacht hatten. Was passiert war und was noch hätte passieren können. Die Vorstellung hatte ihn noch lange verfolgt, auch noch, nachdem sie die Schule abgeschlossen und ihre Wege sich getrennt hatten.
Patrick, Robert und er hatten nie über jene Nacht gesprochen, hatten stillschweigend so getan, als wäre nie etwas geschehen. Er hatte keine Ahnung, wie es den beiden ergangen war; aus seinem Gedächtnis waren die Monate vor der Matur nicht so leicht zu löschen gewesen. Wahrscheinlich war er der Schwächste von ihnen. Vielleicht hatte er sich deshalb mit an Verzweiflung grenzendem Ehrgeiz in seine Ausbildung und seine Arbeit gestürzt: um zu vergessen. Und es war ihm recht gut gelungen. Bis jetzt jedenfalls. Bis Noée wieder in sein Leben getreten war. Alles an ihr, die zitternden Hände, der gesenkte Blick, rief ihm seine Schuld in Erinnerung. Weshalb war sie genau hierher gezogen?! In das Dorf, in dem er gehofft hatte, sein Leben neu aufbauen zu können. Er hatte Noée einmal unauffällig beobachtet und gesehen, dass sie auf der anderen Seite des Spielplatzes lebte. Im Winter, wenn die zwei grossen Ahornbäume ihr Laub abgeworfen hatten, hatte sie vermutlich sogar freie Sicht auf seine Wohnung. Ob sie sich dessen bewusst war?
Kurz kam ihm der Gedanke, sie könnte absichtlich hierher gezogen sein. Hatte sie seinen Wohnort ausfindig gemacht, um ihn zu verfolgen und ihn an die Vergangenheit zu erinnern? Sie hatte sich nie damit abgefunden, dass die Polizei Patrick und ihm nichts hatte nachweisen können, dass ihre Alibi wasserdicht gewesen waren. War sie hierhergezogen, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen? Würde sie es herumerzählen? Wollte sie seinen Ruf schädigen?
Marc warf den Bleistift auf den Tisch und stand auf. Das war absurd! Ihre Reaktion auf ihn am ersten Kindergartentag war nicht gespielt gewesen: Sie war entsetzt gewesen. Und heute Morgen hatte nicht viel gefehlt und sie wäre in Ohnmacht gefallen, als sie merkte, wen sie angerempelt hatte …
Marc beschloss, joggen zu gehen. Bewegung und frische Luft halfen ihm, zu sich selbst zu finden und die Dinge klarer zu sehen. Auch das war ein Ratschlag seines Arztes, den er sich wie die Sache mit dem Kaffee zu Herzen nahm. Während er durch die Rietlandschaft dem See entlang joggte, kam ihm ein neuer Gedanke. War das seine Chance, mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen? Marc blieb stehen und blickte auf den See hinaus, zur gelben Boje, die sanft auf den Wellen auf und ab wippte, und fasste einen Entschluss: Er würde es neben dem Umbau des Bauerhauses als ein weiteres herausforderndes Projekt behandeln: Noée Gallaudet beweisen, dass er nichts mehr mit dem Achtzehnjährigen gemeinsam hatte, der seine Zeit mit Unterrichtsboykott, Mobbing und Alkohol vertrieben hatte. Zufrieden lief er weiter. Ein Ziel! Er hatte ein neues Ziel. Ziele hatten ihm seit jeher geholfen, sich selbst nicht zu verlieren.
Noée
Sie sitzt eingekeilt zwischen Pulten und Körpern. Kahle, charmelose Wände, die Wandtafel, auf die der Lehrer eine komplizierte Gleichung schreibt. Normalerweise sitzt sie zuhinterst beim Fenster, von wo aus sie aus dieser Höhe einen guten Blick über einen Teil der Stadt hat und niemand sie ansehen kann, doch heute ist sie zu spät ins Klassenzimmer gekommen und muss mit einem Platz in der zweiten Reihe Vorlieb nehmen.
Als der Lehrer sie auffordert, nach vorne zu gehen und die Gleichung an der Wandtafel zu lösen, spürt sie die Blicke förmlich, die sich in ihren Rücken bohren. Jemand flüstert. Jemand kichert. Noée weiss, dass sie die Gleichung nicht wird lösen können, dass sie lachen werden. Sie lachen gerne über andere.
Der Lehrer bittet sie erneut, nach vorne zu treten. Sie erhebt sich mühsam. Neben der Panik, die sie in diesem Augenblick wie eine Welle überrollt, spürt sie eine ohnmächtige Wut darüber, dass sie hier stehen muss, dass sie das Tag für Tag ertragen muss. Tränen steigen in ihr hoch, sie kriegt keine Luft mehr. Nur keine Schwäche zeigen, nur keine Schwäche zeigen wiederholt sie wie ein Mantra, während sie nach vorne geht. Jemand lacht. Sie nimmt dem Lehrer die Kreide aus der Hand, zögert einen Moment, schleudert sie gegen die Wandtafel, geht zum Fenster und öffnet es. Sie steigt auf die Fensterbank, blickt einen Augenblick lang in die Tiefe und springt … Sie verspürt keinerlei Angst. Sie nimmt nur noch die befreiende Stille wahr, die sie plötzlich einhüllt. Nach einem kurzen Fall öffnen sich ihre Flügel. Warme Luft hebt sie in die Höhe und trägt sie fort …
Noée knipste das Licht ihrer Nachttischlampe an und griff nach dem Glas Wasser neben dem Bett. Sie setzte sich auf und lehnte den Kopf gegen die Wand. Das hatte sie schon lange nicht mehr geträumt. Gute zehn Jahre lang war sie in regelmässigen Abständen aus einem jener Fenster in die Freiheit gesprungen. Erst mit Sophies Geburt waren die Träume verschwunden. Wohl weil sie lange Zeit viel zu wenig Schlaf bekommen und deshalb gar keine Energie fürs Träumen gehabt hatte. Und jetzt hatten ihre Träume sie eingeholt. Ihre Vergangenheit hatte sie eingeholt. Sie hatte den Wettlauf des Vergessens verloren.